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Bericht zur Tagung vom 8. Juni 2022

Alterspolitik ist auch Sache der Alternden. Dies erfuhren die rund 90 Teilnehmenden einer Tagung der Grauen Panther zum Thema «Autonomie und Abhängigkeit im Alter».

«Wir alle tragen Verantwortung dafür, wie gut eine Balance von Autonomie und Abhängigkeit im Alter für uns selbst, aber auch für andere, gelingen kann», sagte Andrea Maihofer, emeritierte Professorin für Geschlechterforschung der Uni Basel, im Eingangsreferat der Tagung vom 8. Juni im Basler Waisenhaus. Das Alter umfasse heute eine viel längere Zeitspanne als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die durchschnittliche Lebenserwartung bei 49 Jahren für Frauen und 45 Jahren für Männer lag. Ob wir uns um die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, kümmern oder nicht, habe deshalb Konsequenzen für unsere Lebenserwartung und unsere Lebensqualität.
Für jede und jeden Einzelnen gehe es darum, das Alter als eigene Lebensphase zu anerkennen und nicht eine Art Wartesaal. Es gelte, ein neues Selbstbild zu entwerfen, nämlich «das Bild von uns als alternde Menschen». Das Alter verlange «eine neue Lebenskunst», so Maihofer, «die das Jetzt intensiv lebt – im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit.»

Sorge um sich selbst und andere
Mit «Autonomie» verbinde sich bei vielen die unrealistische Vorstellung, dass eine Person vollkommen selbständig und unabhängig ihr Leben gestalten könne. Dies gehe einher mit einem rein individualistischen Verständnis von Freiheit. Andere Menschen werden in erster Linie als Begrenzung der eigenen Freiheit wahrgenommen.
Die Folge davon sei unter anderem eine «strukturelle Abwertung von Sorgetätigkeiten» in unserer Gesellschaft, hielt Maihofer fest. Die vorwiegend von Frauen geleistete Betreuung in der Familie, aber auch die öffentliche Sorge würden bis heute nicht als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkannt. Entsprechend werde jede Art von Abhängigkeit als Verlust von Freiheit, ja als Kränkung angesehen.
Es gebe aber keine Lebensphase, in der wir völlig unabhängig sind. «Wir würden nicht überleben ohne die Sorge anderer um uns.» Sorge und Hilfe durch andere als notwendig für die eigene Existenz anzuerkennen, sei unabdingbar für eine gelingende Balance von Autonomie und Abhängigkeit im Alter. Ihr gehe es auch um eine Balance, die die Sorge um sich selbst mit der Sorge um andere verbindet. Das kann beispielsweise heissen, sich selbst konkret und aktiv um andere zu kümmern, soweit das für einen selbst möglich ist.
Die heutige Altersbetreuung gehe häufig an den Bedürfnissen der alten Menschen vorbei, kritisierte Maihofer. Die meisten Menschen möchten, solange es immer geht, eine Kombination von häuslicher und öffentlicher Sorge und Pflege. «Statt hierfür die nötigen Mittel bereitzustellen, dominiert gegenwärtig ein öffentlicher Diskurs darüber, wie das zu bezahlen ist.»
Ausnahmslos jede Person habe das Recht auf eine gesunde Balance von Autonomie und Abhängigkeit, auf ein menschenwürdiges Altern und Sterben, betonte die Referentin. «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen», heisst es in der Bundesverfassung. Es gelte genau hinzusehen, was dies für das Alter bedeute.
Andrea Maihofer legte damit das «theoretische» Fundament für eine Tagung, die sich in der Folge ganz praktischen Fragen zuwandte. Eingeladen hatte die Arbeitsgruppe «Wohnen» der Grauen Panther Nordwestschweiz, bestehend aus den vier Frauen Beatrice Alder, Irene Leu, Regula Meschberger und Elke Tomforde. Mit 90 Teilnehmenden – Fachleute, Pflegende, Behördenmitglieder, Pantherinnen und Panther – wurden die Erwartungen der Organisatorinnen weit übertroffen.

Neue Projekte in Basel
Franziska Reinhard ist Leiterin des Geschäftsfeldes Betreuung Betagte beim Bürgerspital Basel. Das bsb, wie es heute offiziell heisst, unterhält mehr als 200 Einheiten für «Wohnen mit Service» sowie mehr als 400 Pflegeplätze in fünf Häusern. Um die von Andrea Maihofer angemahnte Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit kümmere man sich beim bsb Tag für Tag, betonte Reinhard. Eigenständigkeit und Gemeinschaft stünden gleichermassen im Vordergrund der Konzepte.
Nach einer Übersicht über die Angebote des bsb kam sie auf das jüngste Projekt zu sprechen: «Westfeld» auf dem Areal des Felix Platter Spitals, in einem neu entstehenden bunten Quartier. Die 17 Studios von zwischen 22 und 28 Quadratmetern sollen ab Februar 2023 bezogen werden. Ergänzend stehen Gemeinschaftsräume wie Küche, Essbereich, Aufenthaltsraum usw. zur Verfügung.
Die Kosten betragen – inklusive Mahlzeiten und 24-Stunden-Notrufbereitschaft – zwischen 2600 und 3800 Franken pro Monat. Wie sich an den Reaktionen der Tagungs-Teilnehmenden zeigte, werden solche Preise zwar als gerechtfertigt anerkannt, sind jedoch für viele Seniorinnen und Senioren ausserhalb der finanziellen Reichweite. Interessierte sollen sich dennoch um einen Platz bewerben. Oft lassen sich Lösungen finden, an die man zunächst nicht denkt.
Ein weiteres Projekt soll in den ehemals vom Tropeninstitut genutzten Räumen an der Socinstrasse entstehen. Auf Anfrage erklärte Franziska Reinhard, es sei durchaus möglich, dass auch die Grauen Panther beim Konzept noch mitreden können.

Alternatives, bezahlbares Wohnen
In der Folge diskutierten die Teilnehmenden in neun Gruppen intensiv das Tagungsthema. Geld war überall wichtig. Ein erheblicher Teil der älteren Menschen hat keinen finanziellen Spielraum. Wird soziale Betreuung durch kommerzielle Projekte verdrängt? Wir brauchen mehr alternative – und bezahlbare! – Modelle für das Wohnen im Alter, auch solche ausserhalb der Institutionen. Keine Abschiebung oder Absonderung der alten Menschen! «Wenn ich Seniorencafé höre, kriege ich schon Zustände», meinte eine Teilnehmerin. Durchmischung der unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen wäre in Wohnprojekten wichtig.
Ältere brauchen nicht nur Pflege, sondern auch Zuwendung, dass jemand Zeit hat für sie. Daran mangelt es, damit ist unser Gesundheits- und Sozialsystem überfordert. Care-Arbeit muss dringend aufgewertet werden. Zudem braucht es persönliche Initiative, um Netzwerke zu knüpfen, doch der Wille dazu erlahmt oft schnell.
Das Fehlen von Information über Netzwerke und Angebote wird beklagt – dies, obwohl es in Basel-Stadt zum Beispiel bei der GGG ein «Info älter werden» gibt, das den Weg weisen kann. Auch in den Gemeinden und Versorgungsregionen des Kantons Baselland stehen zunehmend Fachleute zur Verfügung. Schliesslich wissen Pro Senectute oder die Spitex in vielen Fällen Bescheid. Am 24. September findet der nächste «Marktplatz 55+» statt mit vielen Infoständen.
Die Autonomie des Menschen gilt es zu respektieren bis zum letzten Atemzug, auch wenn das für Betreuende gelegentlich unbequem sein kann. Der Wunsch nach Selbständigkeit – z.B. selbst kochen oder seine Tabletten richten zu können – kollidiert mit dem auf Effizienz getrimmten Alltag der Pflegeheime. Wir müssen bis zum Schluss das Recht haben, auch unvernünftig zu entscheiden.

Am Ende dankte Co-Präsident Hanspeter Meier den beiden Referentinnen und den vier Initiantinnen für eine perfekt organisierte, inspirierende Tagung. Er rief alle Anwesenden auf, den Grauen Panthern beizutreten (www.grauepanther.ch). Denn: Alterspolitik ist zu wichtig, als dass man sie den Politikerinnen und Politikern überlassen dürfte.

Heinz Weber